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Systemisches Coaching

Definition und Grundverständnis

Systemisches Coaching ist ein Beratungsansatz, der den Coachee nicht isoliert betrachtet, sondern als Teil verschiedener Systeme (Familie, Unternehmen, Team, etc.) versteht. Der Fokus liegt auf den Wechselwirkungen, Beziehungsmustern und Kommunikationsstrukturen zwischen den Systemelementen.

Im systemischen Coaching geht es nicht primär um die Veränderung des Individuums, sondern um die Veränderung der Interaktionsmuster innerhalb des Systems.

Theoretische Grundlagen

Systemtheorie nach Niklas Luhmann

  • Systeme sind geschlossene, selbstreferentielle Einheiten
  • Autopoiesis: Systeme erhalten und reproduzieren sich selbst
  • Strukturelle Kopplung zwischen Systemen
  • Kommunikation als Grundelement sozialer Systeme

Konstruktivismus

  • Realität wird subjektiv konstruiert
  • Beobachter und Beobachtetes sind untrennbar verbunden
  • Viabilität statt Wahrheit als Maßstab
  • Multiperspektivität als Ressource

Kybernetik zweiter Ordnung

  • Beobachtung der Beobachtung
  • Coach als Teil des zu betrachtenden Systems
  • Rekursive Schleifen und Rückkopplungseffekte

Grundprinzipien des systemischen Coachings

PrinzipBeschreibungPraktische Umsetzung
NeutralitätAllparteilichkeit gegenüber allen SystemelementenKeine Bewertung von „richtig“ oder „falsch“
RessourcenorientierungFokus auf vorhandene Stärken und Lösungspotentiale„Was funktioniert bereits gut?“
LösungsfokussierungOrientierung an gewünschten Zuständen statt an ProblemenZielzustände konkret entwickeln
HypothesenbildungSystemische Hypothesen als Arbeitsgrundlage„Was könnte der Grund sein, dass…?“
ZirkularitätWechselseitige Beeinflussung statt linearer KausalitätMuster statt Ursachen erkunden

Kernmethoden und Interventionen

Fragetechniken

Zirkuläre Fragen

  • Unterschiedsfragen: „Was ist der Unterschied zwischen X und Y?“
  • Skalierungsfragen: „Auf einer Skala von 1-10, wie würden Sie…bewerten?“
  • Hypothetische Fragen: „Angenommen, das Problem wäre gelöst, was wäre dann anders?“

Systemische Fragen

  • Beziehungsfragen: „Wie würde Ihr Chef die Situation beschreiben?“
  • Kontextfragen: „In welchen Situationen tritt das Problem nicht auf?“
  • Zeitfragen: „Seit wann besteht diese Situation?“

Visualisierungsmethoden

Systemaufstellungen

  • Strukturaufstellungen zur Darstellung von Hierarchien
  • Problemaufstellungen zur Sichtbarmachung von Dynamiken
  • Lösungsaufstellungen zur Entwicklung neuer Optionen

Genogramm

  • Mehrgenerationale Darstellung von Familiensystemen
  • Identifikation von Mustern und Ressourcen
  • Transgenerationale Übertragungen sichtbar machen

Timeline-Arbeit

  • Chronologische Darstellung von Entwicklungen
  • Identifikation kritischer Ereignisse
  • Ressourcen aus der Vergangenheit aktivieren

Systemische Gesprächsführung

Grundhaltungen

Die systemische Grundhaltung umfasst:

  1. Neugier statt Besserwisserei
  2. Nicht-Wissen als professionelle Haltung
  3. Respekt vor den Lösungen des Systems
  4. Geduld mit systemischen Entwicklungsprozessen

Gesprächstechniken

  • Paraphrasieren: Gehörtes in eigenen Worten wiedergeben
  • Reframing: Alternative Deutungsrahmen anbieten
  • Externalisierung: Probleme vom Menschen trennen
  • Ausnahmen erkunden: Zeiten ohne Problem identifizieren
  • Komplimente: Stärken und Ressourcen würdigen

Anwendungsfelder

Business Coaching

  • Führungskräfteentwicklung
  • Teamdynamiken optimieren
  • Organisationsentwicklung
  • Change Management
  • Konfliktbearbeitung

Personal Coaching

  • Work-Life-Balance
  • Karriereentwicklung
  • Beziehungsgestaltung
  • Persönlichkeitsentwicklung
  • Krisenbewältigung

Spezialgebiete

  • Familiencoaching
  • Schulcoaching
  • Gesundheitscoaching
  • Mediation
  • Supervision

Der systemische Coaching-Prozess

Phase 1: Joining und Auftragsklärung

  • Beziehungsaufbau zum Coachee
  • Verstehen des Anliegens
  • Kontext und System erkunden
  • Ziele definieren
  • Rahmen klären

Phase 2: Systemerkundung

  • Systemmitglieder identifizieren
  • Beziehungsmuster erkunden
  • Ressourcen und Stärken sammeln
  • Hypothesen entwickeln
  • Zirkuläre Fragen einsetzen

Phase 3: Intervention und Perturbation

  • Neue Perspektiven einführen
  • Muster unterbrechen
  • Experimente vorschlagen
  • Reframes anbieten
  • Ressourcen aktivieren

Phase 4: Integration und Transfer

  • Erkenntnisse verankern
  • Nächste Schritte planen
  • Rückfallprophylaxe
  • System stabilisieren
  • Erfolgsmessung

Interventionsstrategien

Direkte Interventionen

  • Aufgaben und Experimente
  • Verhaltensänderungen vorschlagen
  • Konkrete Schritte definieren
  • Hausaufgaben vergeben

Indirekte Interventionen

  • Paradoxe Interventionen
  • Symptomverschreibung
  • Positive Konnotation
  • Systemische Schleifen

Reflexive Interventionen

  • Fragen als Intervention
  • Hypothesen teilen
  • Mehrdeutigkeiten schaffen
  • Selbstreflexion anregen

Qualitätsmerkmale systemischer Coaches

Fachliche Kompetenzen

  • Fundierte Ausbildung in systemischer Theorie
  • Methodenkompetenz in systemischen Interventionen
  • Kenntnisse verschiedener Systemebenen
  • Verständnis von Gruppendynamiken

Persönliche Kompetenzen

  • Fähigkeit zur Selbstreflexion
  • Umgang mit Komplexität und Ambiguität
  • Empathie und emotionale Stabilität
  • Neugier und Offenheit für neue Perspektiven

Prozesskompetenzen

  • Gesprächsführung und Moderation
  • Hypothesenbildung und -prüfung
  • Interventionsplanung und -durchführung
  • Evaluation und Anpassung

Wirkfaktoren und Erfolgsmessung

Wirkfaktoren

  • Neue Sichtweisen auf das System
  • Aktivierung von Ressourcen
  • Unterbrechung dysfunkionaler Muster
  • Erhöhung der Selbstwirksamkeit
  • Verbesserung der Kommunikation

Erfolgsindikatoren

  • Veränderung der Interaktionsmuster
  • Erhöhte Flexibilität im Umgang mit Herausforderungen
  • Bessere Kommunikation im System
  • Aktivierung von Selbstheilungskräften
  • Nachhaltige Lösungsfindung

Abgrenzung zu anderen Coaching-Ansätzen

AspektSystemisches CoachingPersonenzentriertes CoachingVerhaltensorientiertes Coaching
FokusSystem und BeziehungenIndividuum und SelbstkonzeptVerhalten und Fertigkeiten
ZielMusterwechselSelbstverwirklichungVerhaltensänderung
MethodenSystemische Fragen, AufstellungenAktives Zuhören, EmpathieTraining, Übungen
ZeitperspektiveGegenwart und ZukunftHier und JetztGegenwart und Zukunft
ProblemverständnisSystemisch bedingtPersönlichkeitsbedingtLerndefizit

Grenzen und kritische Reflexion

Grenzen des Ansatzes

  • Komplexität kann überfordernd wirken
  • Zeitaufwändige Systemerkundung
  • Nicht für alle Anliegen geeignet
  • Erfordert hohe Abstraktionsfähigkeit

Kritische Punkte

  • Gefahr der Beliebigkeit durch Konstruktivismus
  • Vernachlässigung emotionaler Aspekte
  • Überbetonung kognitiver Prozesse
  • Mögliche Verantwortungsdiffusion
Systemisches Coaching ersetzt bei schweren psychischen Erkrankungen keine Therapie und sollte in solchen Fällen an entsprechende Fachkräfte verweisen.

Ausbildung und Zertifizierung

Ausbildungsinhalte

  • Systemische Theorie und Grundlagen
  • Methoden und Interventionstechniken
  • Selbsterfahrung und Selbstreflexion
  • Supervision und Praxisbegleitung
  • Evaluation und Qualitätssicherung

Zertifizierungsorganisationen

  • Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie (DGSF)
  • Systemische Gesellschaft (SG)
  • International Coach Federation (ICF)
  • Deutsche Bundesverband Coaching (DBVC)

Literatur und Weiterbildung

Grundlagenliteratur

  • König, Eckard / Volmer, Gerda: „Handbuch Systemisches Coaching“
  • Radatz, Sonja: „Beratung ohne Ratschlag - Systemisches Coaching“
  • Schmidt, Gunther: „Liebeserklärungen an das Leben“
  • Prior, Manfred: „MiniMax-Interventionen“

Weiterführende Ressourcen

Praxisbeispiele

Fallbeispiel 1: Führungskräftecoaching

Situation: Abteilungsleiter hat Schwierigkeiten mit seinem Team Systemische Perspektive: Welche Rolle spielt das Gesamtsystem? Wie reagiert das Team auf welche Führungsimpulse? Intervention: Zirkuläre Fragen zur Teamperspektive, Aufstellung der Abteilungsstruktur

Fallbeispiel 2: Work-Life-Balance

Situation: Manager fühlt sich überfordert Systemische Perspektive: Welche Systeme (Familie, Beruf, Freunde) konkurrieren um Aufmerksamkeit? Intervention: Systemlandkarte erstellen, Ressourcen in verschiedenen Systemen erkunden

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